Was ich nicht sehe, aber trotzdem ist

 

Ich staune – immer wieder, immer von neuem. Zwei besondere Eindrücke dieser Woche begleiten mich. Da spielte doch ein Kind vor meinen Augen auf dem Spielplatz. Ich nahm mir etwas Zeit und beobachtete unbemerkt, so gut ich konnte, sein Gesicht. Eigentlich war es nur eine einzige Frage, die mich fesselte. Sie lautete: Wenn dieses Gesicht schon so ausdrucksvoll ist, wieviel mehr muss sich im Kopf und Inneren dieses einzigartigen Menschen während dieser Minuten abspielen? Für mich ein faszinierendes Geheimnis, dem ich für einige Momente auf die Spur zu kommen versuchte.

Und dann noch so ein Eindruck, auch ein Gesicht. Die Frau, sie mag um die 90 sein, liegt im Bett, pflegebedürftig. Ich sehe ihr Gesicht. Was dieses Gesicht doch alles sagt! Ich wusste aus früheren Gesprächen: Kein leichtes Leben, viele Durststrecken, viel Zurückweisung, viel Ablehnung. Ein „böser“ Vater, sagte sie einmal. Und mit dem Mann hätte sie sich gerade vier Tage vor dem Tod versöhnen dürfen. Und jetzt sehe ich, bevor ich zur Frau hinzutrete, dieses Gesicht, das Gesicht eines einzigartigen Menschen. Atemberaubend, was es zu erzählen hat. Ja, auf den ersten Blick, mit meinen äusseren Augen, sehe ich nur wenig. Doch von Sekunde zu Sekunde sehe ich mehr. Schau doch genau hin, sagt mir eine innere Stimme, und je genauer Du hinsehen wirst, desto mehr wirst Du erahnen, welch unergründliche und unfassbare, real existierende Wirklichkeiten sich hinter dem zerfurchten äusseren Gesicht verbergen. Ein winziger Bruchteil des Wirklichen siehst Du, einiges erahnst Du, den Rest bist Du eingeladen, im Vertrauen zu glauben. Achtung und Respekt gedeihen.

In diesen Tagen ist Advent. Weihnachten kommt. Ja, da hat doch auch einer sein Gesicht gezeigt. Wenn schon Kinder und alte Menschen faszinierende Gesichter haben, wieviel mehr dieser Gott, der an Weihnachten sein Gesicht zu zeigen beginnt. Wir sehen das Gesicht des Neugeborenen im Stall, später dann im Tempel, dann in der Wüste, auf dem Berg, bei Wanderungen, in unzähligen Begegnungen, zuletzt am Kreuz und dann wieder am See. Äussere Eindrücke. Was alles muss an Wirklichkeit dahinter liegen? Wieviel Liebe dessen, der Himmel und Erde geschaffen hat, muss sich hinter dem äusseren Gesicht von Weihnachten verbergen? Wieviel Sehnsucht wird hinter dem Gesicht dessen, der uns ursprünglich zur Gemeinschaft mit ihm geschaffen hat, vorhanden sein? Ein winziger Bruchteil des Wirklichen sehe ich, einiges erahne ich, für den Rest bin ich eingeladen zu glauben. Weihnachten deshalb: Eine grosse Einladung, genau hinzusehen, dann zu ahnen, und schliesslich vertrauensvoll zu glauben. Die Wirklichkeit ist grösser als das, was ich mit meinem äusseren Auge zu sehen vermag. Gott sei Dank!

Dr. Markus Müller / Stiftungsrat SalZH / 20.12.2016