Orientierungslos

Ich fahre durch die abendliche Stadt, habe heute wohl an jedem Rotlicht zu halten, das auf meinem Wege ist, der Schneematsch spritzt aufs Trottoir und trägt vorwurfsvolle Blicke ein, der Scheibenwischer schiebt nasse Schneeflocken beiseite. Die stressige Woche ist vorbei, die Spannung lässt nach, ich merke, dass ich unter der Oberfläche meiner “Ich-bin-froh-ist-endlich-Wochenende-Stimmung“ das heulende Elend habe, wie wir auf Schweizerdeutsch sagen. Deshalb hocke ich ja auch in meinem Wagen und halte stadtauswärts: Ich will eine Veränderung meiner Stimmungslage und nicht die Einsamkeit spüren, die an diesem Wochenende vorprogrammiert ist. Ich bin mir aber nicht bewusst, dass ich gerade dabei bin, einen Ort aufzusuchen, der meinen innern Zustand noch verschärfen könnte. Ich merke es erst, als ich an einem abgelegenen, schneeverhangenen Waldrand parke, den Wagen abschliesse, den Kragen hochschlage und auszuschreiten beginne.

Mein Schwung lässt ob den aus meiner ausgepumpten Seele genährten Gedanken bald nach. Ich finde eine Stelle, wo ich auf das zurückgelassene Lichtermeer der Stadt und die vereinzelten näherliegenden Weiler unter mir schauen kann, aus deren Kaminen sich Rauchfähnchen kräuseln und ein gemütliches Feuer und behagliche Wärme im trauten Familienkreis verraten, setze mich auf einen vereisten Strunk und sinniere vor mich hin.

Ich brauche mich nicht zu beherrschen, da ist niemand, der mich sieht und keiner, den es kümmert, und drum steigt dieser alte, wehe Schmerz aus der Tiefe langsam hoch, in die Augen und darüber hinaus. Beten mag ich auch nicht, mich wie immer und immer an einen körperlosen Gott anlehnen ….. ach ja – ich mag nun einfach nicht.

Das Eis unter meiner Sitzfläche schmilzt und dringt unangenehm kalt durch den Stoff. Ich beschliesse, dem verschneiten Weg zum nächsten Weiler zu folgen, einen Blick in die verträumten Stuben zu erhaschen oder wenigstens die Wärme aus einer halboffenen Stalltüre zu erleben und im Bogen zurück zu meinem Wagen zu wandern.

Ich mag Gott auch nicht sagen, was ich jetzt bräuchte oder dass ich getröstet werden sollte ….. weiss Er das doch alles besser als ich, und ich kann ja nichts forcieren.

Da galoppieren plötzlich zwei Rehe fast lautlos über den Weg und verschwinden im Unterholz. “Oh – Entschuldigung – ich wollte eure runtergefahrenen Körpersysteme nicht hochfahren lassen!“, denke ich und fühle mich schuldig, weiss ich doch, dass sie durch mein Aufschrecken schlagartig ihren Kreislauf aktivieren müssen und dadurch viel Energie verbrauchen, die sie eigentlich für den Winter benötigten.

Ich erreiche den ersten Weiler, der Harst knarrt unter meinen Schuhen. Ich verlangsame den Schritt, schaue im Spazieren wie von ungefähr in die Fenster, hoffe, dass niemand mein blickmässiges Eindringen in die heimische Initimität bemerkt, getraue mich nicht stehen zu bleiben und bin froh, sind auch die Hunde drinnen. Weiter vorn ist tatsächlich ein Stall, am Geruch und am Stampfen der Kühe nicht zu verkennen.

Ich öffne den oberen Teil der Tür und lehne meine Arme auf die Kante des untern Torteils. Die markant riechende Wärme schlägt mir entgegen, einige Kühe drehen den Kopf und blicken mich ausdruckslos an. Halblaut spreche ich mit ihnen: «Fröhliche Weihnachten wünsche ich euch! Geniesst die Wärme und die Gemeinschaft, ihr Guten! Euer Leben ist beneidenswert einfach!»

Ich erinnere mich, wie schnell der Stallgeruch in den Haaren hängt und verabschiede mich vom ställischen Idyll und seinem sympathischen Inhalt, kehre auf das Schneesträsschen zurück und setze meinen Weg fort. Der Schnee rieselt stärker und ich befürchte langsam, dass ich mich verirren könnte, weil neben den Weilern alles stockdunkel ist und ihr spärliches Licht nicht weit reicht. Darum entscheide ich nach fünf Minuten, auf die Strasse umzukehren und den gleichen Weg zurückzugehen.

Die Scheinwerfer eines einsamen Wagens wackeln über die Felder und nähern sich auf “meinem“ Strässchen. Das ältere jeepähnliche Gefährt überholt mich, eine Frau hinter dem Lenkrad nickt mir freundlich zu und parkiert weiter vorne vor einem der Häuser. Sie steigt aus, geht zur Haustür, öffnet, ruft etwas und kehrt zum Auto zurück, wo sie die Heckhaube hebt. Zwei, drei Kinder stürmen heraus und eilen zu ihr, um die vollen Taschen in Empfang zu nehmen und ….. um vielleicht einen Blick auf allfällige Geschenke zu erhaschen?

«Kann ich helfen?», frage ich, weil da der ganze Wocheneinkauf im Wagen steht.
«Oh – das ist freundlich …» zögert sie, «… gut, gerne …..»

Sie übergibt mir zwei volle Plastiksäcke, und ich folge den Kindern zur Türe. Zweimal laufe ich und verabschiede mich dann.

«Das war sehr nett von Ihnen!», meint sie, die Kinder mit neugierigem Blick um sie herum.
«Mami, kennst du den Mann?», erkundigt sich der Junge.
«Nein, aber er ist ein sehr freundlicher Herr. Er hat uns einfach so geholfen, die schweren Sachen reinzutragen», entgegnet sie ihm.

Die kleinere Schwester sagt: «Das ist der Samichlaus.»
Der Junge lacht: «Sicher nicht der Samichlaus! Der hat einen Bart und einen roten Mantel!»

Wir lachen auch. «Du hast Recht, kleiner Mann, ich bin nicht der Samichlaus. Ich bin aus der Stadt und hier etwas spazieren gegangen.»
«Hast du ein Auto?»
«Ja, weiter vorne ist es parkiert.»

Darauf wende ich mich an die Mutter der drei Kleinen: «Nichts für ungut – dann suche ich mal mein Auto und fahre zurück. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie noch eine schöne Weihnachtswoche!»
«Danke nochmals, der Herr! Ach – warten Sie, ich habe noch etwas für Sie!»

Damit eilt sie ins Haus zurück. Die Kinder schauen mich unverhohlen neugierig an. Etwas verlegen lächeln wir, aber da kommt die Mama bereits zurück, in der Hand einen kleinen Adventskranz mit vier Kerzen. «Dieser ist noch übrig von denen, die wir im Altersheim verteilt haben. Es war der kleinste und irgendwie konnte ich ihn einfach nicht weggeben. Jetzt weiss ich warum. Sie brauchen ihn nötiger als die andern», sagt sie mit strahlendem Lächeln.

Ich bedanke mich verdattert, wir verabschieden uns mit gegenseitigen Frohe-Weihnachtswünschen, und ich kehre zu meinem Wagen zurück. Zu Hause platziere ich den Kranz auf dem Salontisch, entzünde die vier Kerzen und starre – immer noch benommen und zugleich erfreut – in das zarte Flackern.

“Sie brauchen ihn nötiger als die andern“, hatte die Frau gesagt. Sie hatte Recht – woran hatte sie das gemerkt? Nun – es ist müssig, darüber nachzudenken. Aber ich spüre: Ich habe mich nicht an meinen körperlosen Gott angelehnt, doch Er hat mich trotzdem in die Arme genommen.

Eine Geschichte von © Jérôme Forgeron / Dezember 2011